Erste Sabbat-Feier nach 75 Jahren

Ein polnischer Lehrer erforscht im früher deutschen Grünberg die jüdische Vergangenheit der Stadt

„Hier ist es." An der Ausfallstraße nach Breslau zeigt Andrzej Kirmiel auf ein graues Gebäude hinter einem zerfallenen Zaun. „Das war die jüdische Leichenhalle", erläutert der 49-Jährige. Bis vor kurzem sei darin noch eine Autowerkstatt gewesen. Auf dem Gelände ringsherum wuchern dünne Bäume.

Im Inneren der Halle sind zwei Dutzend Grabsteine aufgereiht. Sie tragen deutsche und hebräische Inschriften. Die Steine habe er mit Schülern seines Gymnasiums gesichert, berichtet der Geschichtslehrer. Sie lagen auf dem verlassenen Friedhof wild verstreut. „Es waren nur noch Sandsteine da, die sind weniger wertvoll", fügt er hinzu.

In einem Archiv fand Kirmiel den Beweis für eine Episode, die ihm ein alter Steinmetz erzählt hatte. „Grabsteine aus rotem Granit und Carrara-Marmor sind zu sichern", steht in einer Polizei-Anweisung aus dem Oktober 1967. Damals wurden in den Westgebieten Polens, die bis 1945 zu Deutschland gehört hatten, die alten deutschen Friedhöfe eingeebnet. „Man machte keinen Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Friedhöfen", erläutert Kirmiel. Die wertvollen Grabplatten wurden an Funktionäre verteilt, die das Material für private Bauzwecke verwandten.

Damit setzte sich eine Bereicherung an früherem jüdischem Eigentum fort, die es schon während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hatte. Etwa eine Million Polen leben heute in Häusern, die früher Juden gehörten, schätzt Kirmiel. Viele versuchten, das Thema zu verdrängen, weil sie Entschädigungsforderungen fürchten. Oder man tut das Problem mit dem Hinweis ab, dass die Vertreibung und Ermordung der Juden das Werk der deutschen Besatzer gewesen sei. Tatsächlich gab es während des Kriegs in keinem europäischen Land so viele Menschen, die Juden retteten, wie in Polen.

Doch als Andrzej Kirmiel in den 1980er Jahren in Krakau Geschichte studierte, wurde der Holocaust nie erwähnt. „Und das, obwohl Auschwitz nur 50 Kilometer von Krakau entfernt ist." Erst nach 1989 wurde die Frage, wie sich Polen während der Kriegszeit verhalten haben, zögerlich diskutiert. Das Buch „Nachbarn" von Jan Tomasz Gross, in dem die Beteiligung der polnischen Bewohner eines Dorfes am Judenmord beschrieben wurde, löste heftigste Gegenreaktionen aus. Denn es brachte die weit verbreitete Auffassung, dass Polen nur die Opfer der Besatzer gewesen seien, ins Wanken.

In den früher zu Deutschland gehörenden Gebieten spielte das Thema jedoch weiter kaum eine Rolle. „Dabei gibt es allein auf dem Territorium der Wojewodschaft Lebuser Land um die 30 alte jüdische Friedhöfe und zehn Synagogen", berichtet Kirmiel. Eines der am besten erhaltensten Gotteshäuser sei das in Meseritz (Miedzyrzecz), in dem sich ein Supermarkt befindet.

Im ehemaligen Grünberg, das ein Zentrum der Textilproduktion war, hatten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr Juden angesiedelt. 1814 wurde der Begräbnisplatz an der Breslauer Straße als erstes Grundstück der Stadt an die jüdische Gemeinde verkauft. „Einige Jahrzehnte später hatten schon so viele jüdische Kaufleute und Fabrikanten ihre Häuser am Markt errichtet, dass diese Gegend auch als Klein-Jerusalem bezeichnet wurde", fand Kirmiel heraus.

Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 folgten die gleichen aggressiven Maßnahmen wie in ganz Deutschland. Die Juden mussten einen Stern tragen und wurden enteignet. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde auch die Grünberger Synagoge angezündet. „Sie stand an der Stelle, wo heute die Philharmonie ihren neuen Saal hat, in dem auch häufig deutsche Künstler auftreten", erläutert Kirmiel. Doch eine Erinnerungstafel sucht man vergeblich.

In der Grünberger Wollfabrik, die während des Krieges Uniformen herstellte, mussten hunderte jüdische Frauen aus Polen als Zwangsarbeiterinnen schuften. In einem Todesmarsch im Frühjahr 1945 kamen viele um.

Trotz der großen Tragödie während und nach dem Krieg – gleich 1946 kam es in Polen zu einzelnen Pogromen und 1968 wurden in einer antizionistischen Kampagne Zehntausende Menschen zur Ausreise nach Israel gezwungen – leben auch heute noch einige Juden in der Region. Eine von ihnen ist Alicja Skowronska. Ihre Biographie macht die ganze Tragik der polnischen Juden deutlich. „Als Polen 1939 von den Deutschen und Russen besetzt wurde, lebten meine Eltern auf der russischen Seite der Trennlinie. Im Februar 1940 wurden sie nach Sibirien abtransportiert." 1942 wurde Alicja in einem Dorf im Ural geboren. Hätten die Eltern nur wenige Kilometer weiter westlich in Polen gelebt, wären sie von den Deutschen vermutlich in einem Konzentrationslager ermordet worden.

Nach dem Krieg kam die Familie in jene Gebieten östlich von Oder und Neiße, aus denen die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war. Alicja heiratete einen Katholiken und wechselte ihren Glauben. „In meinem Inneren habe ich die jüdischen Empfindungen aber immer bewahrt", sagt sie.

„In Polen leben heute etwa vier- bis fünftausend Menschen jüdischen Glaubens", berichtet Andrzej Kirmiel. In Großstädten wie Warschau, Breslau oder Stettin gibt es wieder funktionierende Gemeinden. Für die Wojewodschaft Lebuser Land gründete der Lehrer 2006 mit Gleichgesinnten die Stiftung „Lubuska Fundacja Judaica". Sie will jüdische Spuren sichtbar machen. Doch damit nicht genug. Am 2. März soll in Zielona Góra die erste Sabbat-Feier seit 75 Jahren stattfinden, als die Vertreibung der Grünberger Juden begann. Bart Schumann, ein Rabbiner aus Kalifornien, wird dabei aus der Thora lesen.

Märkische Oderzeitung, 6.2.2007